Sibylle Lewitscharoff findet Selbstmörder abstoßend

Am 20. November 2011 wurde die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Es ist eine alte Tradition, dass Preisträgerinnen und Preisträger in ihrer Dankesrede ihr Verhältnis zu dem Namensgeber beschreiben, und ich bin der Süddeutschen Zeitung dankbar, dass sie Sibylle Lewitscharoffs Auslassungen zum Thema fast komplett in ihrer Ausgabe vom 21. November 2011 dokumentiert hat.

Ich zitiere: „Gleich will ich vorwegnehmen, weshalb meine Sympathie für den Mann gleichsam auf langen Zähnen transportiert wird: Da wäre der theatralische Mord und Selbstmord ins Feld zu führen, mit dem er geendet hat und dem ich nichts Anziehendes abgewinnen kann. Selbstmörder sind charakterlich zumeist eine ungute Mischung aus Weichlichkeit und Härte, die auf mich abstoßend wirkt. So auch der weichlich harte Mann Kleist.“

Abgesehen davon, dass der Satz über die Selbstmörder sprachlich eine ungute Mischung aus Ungenauigkeit und Beklopptheit ist, die ich von einer Kleist-Preisträgerin nicht erwartet hätte, ist dieses Urteil über die Selbstmörder in seiner ganzen Borniertheit, Vorurteilsbeladenheit und seinem Übereinenkammgeschere bemerkenswert. Ich wünsche keiner Familie, die einen Angehörigen durch Suizid verloren hat, Sibylle Lewitscharoff als Rednerin beim Begräbnis. Es könnte zu unschönen Szenen beim Leichenschmaus danach kommen.

Schön auch, dass Sibylle Lewitscharoff den diskreten Hinweis unterbringt, dass Kleist ein Mörder war, bevor er sich umbrachte. Abgesehen davon, dass keine Staatsanwaltschaft, die alle fünf Rechtsstaatlichkeitssinne beisammen hat, es gewagt hätte, Kleist, gesetzt den Fall, der Suizidversuch wäre missglückt, des Mordes anzuklagen, da es schwer gewesen wäre, ihm die für diese Anklage nötigen niederen Beweggründe zu unterstellen: Aus Lewitscharoffs Worten spricht eine bodenlose Verachtung für das, was Kleist Henriette Vogel und sich angetan hat, eine Haltung, die konsequent den psychischen und im Fall von Vogel auch physischen Zustand der beiden ausblendet. Der zugrunde liegende Zynismus ist vielleicht mit dem schimpfender Bahnpassagiere zu vergleichen, die sich über den Egoismus derjenigen aufregen, die den berüchtigten Personenschaden im Gleisbett verursachen. Dabei haben Kleist und Vogel noch nicht einmal Verspätungen verursacht oder sonstige Beeinträchtigungen ihrer Umwelt.

Ein Suizid ist immer eine Katastrophe. Mit Vorwürfen und Verachtung gegenüber dem Toten reagiert man nicht adäquat. Gerade im Fall Kleists, dessen letzte Monate so gut dokumentiert sind, dessen letzte Stunden und Tod fast minutiös nachvollzogen werden können, ist deutlich zu spüren, dass Mitleid das viel angebrachtere Gefühl ist. Es steht mir sicher nicht an, Sibylle Lewitscharoff andere Gefühle im Umgang mit Suizidopfern zu empfehlen. Aber Ihre Äußerung deutet auf eine ungute Mischung aus Zynismus und Kälte in ihrem Charakter hin.

Ach ja: Die Rede rund um die oben zitierte Passage war natürlich deutlich länger. Erhellend war sie in Bezug auf Kleist wenig. Offensichtlich kann Frau Lewitscharoff mit Kleist überhaupt nichts anfangen und hat sich beim Schreiben dieser Rede ganz furchtbar einen abgebrochen. Ein bisschen Mitleid mit ihr ist also auch durchaus angebracht.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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