Große Geheimnisse

Die Reise kreuz und quer durch Deutschland, auf der sich Kleist gemeinsam mit Freund Brockes im Sommer 1800 befindet, ist berühmt geworden – vor allem, weil es Kleist nicht nur gelang, den Zweck dieser Reise vor seinen Freunden und Verwandten geheim zu halten, sondern auch vor seiner Nachwelt, bis heute. Die Briefe an die Schwester Ulrike und die Verlobte Wilhelmine lesen sich, nun ja, sehr eigenartig. Willkürlich herausgegriffen seien hier die ersten Sätze aus seinem Brief an Ulrike vom 21. August 1800:

Du vergißt doch nicht, daß ich Dir allein meinen Aufenthalt mittheile, u. daß er aus Gründen jedem andern Menschen verschwiegen bleiben muß? Ich habe ein unumschränktes Vertrauen zu Dir, und darum verschweige ich Dir nichts, was zu verschweigen nicht nothwendig ist. Vertraue auch mir, u. thue keinen eigenmächtigen Schrit, der üblere Folgen haben könnte, als Du glaubst.

So oder ähnlich schreibt Kleist fast in jedem überlieferten Brief an die beiden Frauen, und es fällt schwer zu glauben, dass sie nicht das eine oder andere Mal genervt die Augen beim Lesen verdreht haben.

Die Kleistforschung hat wilde, mehr oder weniger gut begründete Spekulationen angestellt, um hinter den Sinn dieser Reise und der mit ihr verbundenen Geheimniskrämereien zu kommen. Wir wissen, dass die Reise sehr teuer war und dass Ulrike (nicht zum letzten Mal in Kleists Leben) finanziell aushelfen musste; aber was da soviel Geld kostete, ist im Dunklen geblieben.

Die unterhaltsamste, aber wohl haltloseste Theorie ist ausgerechnet die, die sich am tiefsten ins Leserhirn eingräbt und immer frech hervorlugt, wenn Kleist wieder seine kleinen Andeutungen in seinen Briefen unterbringt: Er sei unterwegs gewesen, um eine Phimose chirurgisch korrigieren zu lassen. Unterhaltsam deshalb, weil Kleist immer dann, wenn er von seiner Mission schreibt (und das tut er dafür, dass es eine geheime ist, verblüffend oft), dies in den höchsten, pathetischsten Tönen tut, was, wenn man ausgerechnet an eine Phimose als Auslöser dieser Mission denkt, eine gewisse humoristische Fallhöhe erzeugt. Freund Brockes scheint völlig begeistert zu sein von Kleists Plänen (Brief an Wilhelmine von Zenge, 20. und 21. August 1800):

Ach, mein beßtes Minchen, wie unbeschreiblich beglückend ist es, einen weisen, zärtlichen Freund zu finden, da wo wir seiner grade recht innig bedürfen. Ich fühlte mich stark genug den hohen Zweck zu entwerfen, aber zu schwach um ihn allein auszuführen. Ich bedurfte nicht sowohl der Unterstützung, als nur eines weisen Rathes, um die zweckmäßigsten Mittel nicht zu verfehlen. Bei meinem Freunde Brokes habe ich Alles gefunden, was ich bedurfte, u. dieser Mensch müßte auch Dir jetzt vor allen Andern, nach mir vor allen Andern theuer sein. Ihm habe ich mich ganz anvertraut, u. er ehrte meinen Zweck, sobald er ihn kannte, so wie ihn denn jeder edle Mensch, der ihn fassen kann, ehren muß. Ach, mein theures edles Mädchen, wenn auch Du meinen Zweck ehren könntest, auch selbst ohne ihn zu kennen! Das würde mir ein Zeichen Deiner Achtung sein, ein Zeichen, das mich unaussprechlich stolz machen würde.

Ein schöner Gedanke, sich vorzustellen, wie Kleist Brockes seinen großen Zirkumzisionsplan eröffnet und Brockes ihm mit einem begeisterten „Hurra!“-Ausruf um den Hals fällt, womöglich sich solidarisch dem Plan anschließt und mit Kleist gemeinsam einer feierlichen Trennung vom Präputium entgegensieht.

Realistischere Spekulationen zu Kleists großen Plänen beziehen sich auf Spionage und damit verbundene größere Geldeinnahmen – denn Geld hatte Kleist schon um 1800 bitter nötig und hätte die Wahrscheinlichkeit einer Ehe mit Wilhelmine erhöht. Es hat wohl alles nicht geklappt am Ende, im Gegenteil, die ganze Reise, in großer Eile kreuz und quer durch Deutschland, war vor allem eins: teuer.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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