Eine wunderliche Gewalt über mein Herz

Jens Bisky hat sich in seiner Kleist-Biografie ausführlich mit dem Brief an Ernst von Pfuel vom 7. Januar 1805 beschäftigt (S. 224 ff.), und auch Günter Blamberger widmet ihm breiten Raum. Bisky nimmt diesen Brief zum Anlass, ausführlich die Frage einer Homosexualität Kleists zu beleuchten. In der Tat, die Frage stellt sich.

Du übst, du guter, lieber Junge, mit Deiner Beredsamkeit eine wunderliche Gewalt über mein Herz aus, und ob ich dir gleich die ganze Einsicht in meinen Zustand selber gegeben habe, so rückst du mir doch zuweilen mein Bild so nahe vor die Seele, daß ich darüber, wie vor der neuesten Erscheinung von der Welt, zusammenfahre.

Kleist erinnert an gemeinsame Tage im Sommer 1803 in Dresden und in der Schweiz, eine Zeit, in der er im engen Kontakt mit Pfuel kurzzeitig sehr glücklich gewesen sein muss; jetzt, ein halbes Jahr später, ist irgendetwas passiert zwischen ihnen, Kleist weiß nicht, was er mit allen diesen Thränen anfangen soll – ist dieser berühmte Brief eigentlich ein Entschuldigungs­brief? Der sich dann steigert zu einem großen, auch erotischen Liebesgeständnis? Oder „nur“ zu einer Hymne an die Freundschaft?

Wir empfanden, ich wenigstens, den lieblichen Enthusiasmus der Freundschafft! Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei dir schlafen können, du lieber Junge; so umarmte dich meine ganze Seele! Ich habe deinen schönen Leib oft, wenn Du in Thun vor meinen Augen in den See stiegest, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet.

Freundschaft, Griechenland – so weit, so konventionell. Die ausführliche Beschreibung von Pfuels Körper (zwei breite Schultern, ein nerviger Leib, das Ganze ein musterhaftes Bild der Stärke), das Ausmalen eines gemeinsamen, eheähnlichen Lebens als neuer Lebensentwurf (Ich heirathe niemals, sei du die Frau mir, die Kinder, und die Enkel!) wirken in ihrer Emphase auf uns aber eindeutig wie ein Liebesbrief. Bisky hat darauf hingewiesen, dass das „gleichsam ein Heiratsantrag“ ist, dass hier die Utopie einer eheähnlichen Gemeinschaft formuliert wird, die zu Kleists Zeit fern jeder üblichen Vorstellungswelt war.

Dass es Männer gibt, die sich vom eigenen Geschlecht angezogen fühlen, war um 1800 wohl bekannt, und solche Männer waren durchaus Zielscheibe für Spott bis hin zur Beleidigung. „Outen“, um berufliche Existenzen zu vernichten, kam vor, und auch Kleist hat später, in den Berliner Abendblättern, einem Promi, dem Theatermacher August Wilhelm Iffland, Neigungen zum eigenen Geschlecht zum Vorwurf gemacht, um ihm zu schaden.

Wir dürfen uns ganz sicher nicht Kleist als offen Schwulen vorstellen, der mit diesem Brief gegenüber seinem engsten Freund, zu dem er nun seine Liebe entdeckt hat, sein äußeres Coming Out entfaltet. Liest man diesen Brief im Zusammenhang seiner anderen Briefe aus dieser Zeit, gerade an Ernst von Pfuel, so sticht er als vergleichsweise singuläres Ereignis aus einer Reihe eher geschäftsmäßiger Briefe rund um das Basteln an neuen Berufsplänen Richtung Spanien und Königsberg heraus; die weiteren Briefe an Pfuel drehen sich mehr um die gemeinsamen Pläne zum Bau eines U-Bootes als um das gemeinsame Baden im Meer. Es sind einfache, durchaus innige Freundschaftsbriefe, nicht mehr, nicht weniger. Überlegungen hinsichtlich eines gemeinsamen Auswanderns nach Australien waren, wohl ausgehend von Pfuel, der andere Pläne für sein Leben hatte, schnell vom Tisch.

Es ist ja für den, der aus Kleists Brief ein offenes Bekenntnis zum eigenen Schwulsein herauslesen möchte, höchst erstaunlich, dass der Adressat, immerhin auch ein Mensch des frühen 19. Jahrhunderts und hundert Jahre vor dem Beginn einer ernsthaften Schwulen­bewegung, nicht sofort den Kontakt zu Kleist abbrach, sondern ganz im Gegenteil sein bester Freund blieb. Der Brief war für Ernst von Pfuel offensichtlich nicht die Sensation, als die er bei seiner Entdeckung 1905 gehandelt wurde.

Wahrscheinlicher erscheint mir, dass der Brief Reaktion auf einen Konflikt zwischen den beiden war, dass Kleist einen Riss in der Freundschaft wieder kitten wollte, nein musste, weil ihm Pfuel so immens wichtig war; und dass Pfuel natürlich Kleists Neigung zu großen, fast manischen Gefühlsausbrüchen und natürlich auch zu großen depressiven Phasen kannte und diesen Brief für sich entsprechend einordnete.

Kleists schwule Seiten sind für mich in diesem Brief unübersehbar. Ich glaube nicht, dass sich Kleist diese Seiten jemals wirklich bewusst gemacht hat, sondern dass er zeit seines Lebens versucht hat, sie zu negieren. Wir sehen diese Seiten mit unserem heutigen Wissen über die menschliche Sexualität und können vielleicht Nuancen zwischen den Zeilen lesen, für die Kleist und seine Zeitgenossen noch nicht empfänglich waren. Viele Motive in seinen Werken, viele gescheiterte Lebenspläne, sein seltsames Verhältnis zu Wilhemine werden mir durch diesen Ansatz plausibel.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
Dieser Beitrag wurde unter Briefe abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.