Hartnäckigste Verstopfungen

Kleist schreibt in seinem Brief an seinen Vorgesetzten Karl von Stein zum Altenstein vom 10. Februar 1806: Eine fortwährende Unpäßlichkeit aber in den ersten Monaten, und späterhin eine Störung des natürlichen Geschäfftsganges (…) haben meine Entwickelung zurückgehalten. Und in seinem Brief an denselben Adressaten vom 30. Juni 1806 berichtet er: Ich bin seit mehreren Monden schon mit den hartnäckigsten Verstopfungen geplagt.

Als er den hochzuverehrenden Herrn Geheimer Ober-Finanzrath Hans von Auerswald am 10. Juli 1806 bittet, ihn von seiner Arbeit freizustellen, begründet er diesen Schritt mit folgenden Worten: Ein fortdauernd kränklicher Zustand meines Unterleibes, der mein Gemüth angreift, und mich bei allen Geschäfften, zu denen ich gezogen zu werden, das Glück habe, auf die sonderbarste Art ängstlich macht, macht mich, zu meiner innigsten Betrübniß, unfähig, mich denselben fernerhin zu unterziehen. Der kleine Heinrich kann heute nicht zur Arbeit erscheinen, weil er Bauchweh hat. In dieser Zeit schreibt er Michael Kohlhaas, Der zerbrochne Krug und Amphitryon, mit der Penthesilea beginnt er. Wie geht das zusammen?

Die Unterleibsschmerzen beziehen sich ausschließlich auf die ungeliebte Erwerbstätigkeit, Prüfungsangst scheint ein übriges zu tun, worauf auch die umfangreichen Auslassungen über mündliche Examina in seinem Aufsatz Über die Allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden hindeuten. Ich glaube nicht, dass Kleist simuliert, dafür beschreibt er zu genau die klassischen Symptome eines Knoten im Bauchs, den viele Menschen haben, die mit ihrem Leben nicht (mehr) im reinen sind und vor großen Veränderungen stehen, die letzte Entscheidung dazu aber noch nicht getroffen haben. Ein weiteres Zitat aus dem Brief an Karl von Stein zum Altenstein vom 30. Juni 1806:

Es ist, als ob das, was auf mich einwirkt, in eben dem Maaße wächst, als mein Widerstand; wie die Gewalt des Windes in dem Maaße, als die Pflanzen, die sich ihm entgegensetzen. Ich bin seit mehreren Monden schon mit den hartnäckigsten Verstopfungen geplagt. Nicht genug, daß ich bei der Unruhe, in welche sie mich versetzen, unfähig zu jedem Geschäft bin, das Anstrengung erfordert: kaum, daß ich dazu tauge, die Seite eines Buches zu überlesen. Ich bin schüchtern gewesen, schon durch den ganzen Winter, wenn die Reihe des Vortrags mich traf: der Gegenstand, über den ich berichten soll, verschwindet aus meiner Vorstellung; es ist, als ob ich ein leeres Blatt vor Augen hätte. Doch jetzt würde ich zittern, wenn ich vor dem Kollegio auftreten sollte. Es ist eine große Unordnung der Natur, ich weiß es; aber es ist so.

Mit Bauchschmerzen geht Kleist zur Arbeit, offensichtlich befreit von Bauchschmerzen sitzt er nach Feierabend und schreibt u.a. zwei der intelligentesten Komödien, die je in Deutschland hervorgebracht wurden. Schließlich schreibt er in seinem Brief an den Freund Otto August Rühle von Lilienstern vom 31. August 1806:

Die Wahrheit ist, daß ich das, was ich mir vorstelle, schön finde, nicht das, was ich leiste. Wär ich zu etwas Anderem brauchbar, so würde ich es von Herzen gern ergreifen: ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann. Du weißt, daß ich meine Carriere wieder verlassen habe. Altenstein, der nicht weiß, wie das zusammenhängt, hat mir zwar Urlaub angeboten, und ich habe ihn angenommen; doch bloß um mich sanfter aus der Affaire zu ziehen. Ich will mich jetzt durch meine dramatische Arbeiten ernähren; und nur, wenn du meinst, daß sie auch dazu nicht taugen, würde mich Dein Urtheil schmerzen, und auch das nur bloß weil ich verhungern müßte. Sonst magst Du aber über ihren Werth urteilen, wie Du willst. In drei bis vier Monaten kann ich immer ein solches Stück schreiben; und bringe ich es nur à 40 Frid. d’or, so kann ich davon leben.

Klare, entspannte, offensichtlich durchdachte Worte, die so gar nicht mehr auf Unterleibsschmerzen hindeuten. Kleist als Angestellter, das konnte nicht lange gut gehen, er muss offensichtlich sein eigenes Ding drehen; der Knoten im Bauch, die Verstopfung hat sich gelöst.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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