Atemlos

Penthesilea ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Wahnsinnsstück. Atemlos, pausenlos, ein Liebes- und Gewaltswahnsinn, eine wütende Elefantenherde von einem Stück. Küsse, Bisse, das reimt sich, und damit hat Penthesilea am Ende, als alles vorbei ist, ganz gut das Stück umrissen.

Als Text liest sich das Drama wie ein Pageturner: Atemlos wie seine beiden Hauptfiguren Achill und Penthesilea blättert man weiter, von der ersten Szene an zielt alles auf den letzten großen Clash der beiden. Und wie es sich für einen guten Stoff gehört: Es macht nichts, dass wir heute wissen, wie es ausgeht, im Gegenteil, das Wissen „Oh Gott, am Ende zerreisst sie ihn und isst ihn …“ steigert den Reiz – so wie das Wissen, dass dieser junge freundliche Mann an der Motelrezeption gleich seinen Gast in der berühmtesten Duschszene der Filmgeschichte mit gefühlten 634 Stichen ermorden wird, den Reiz von „Psycho“ nur noch weiter steigert. Der Schockeffekt, der für Kleist und Hitchcock sicher sehr wichtig war, ist das eine – dass diese Werke, obwohl sie gern auf die Schlüssel­schockszenen reduziert werden, trotzdem funktionieren, zeigt aber erst ihr Genie.

Nein, das konnte Goethe nicht gefallen, und es ist durchaus rührend, dass Kleist offenbar darauf gehofft hatte, von Goethe zustimmende Worte zu diesem Stück zu erhalten. Goethes Vorstellung von der griechischen Klassik, an die ja, es ist kaum zu fassen, seine „Iphigenie auf Tauris“ genauso anknüpfen wollte wie Kleists Penthesilea, war dann doch eine andere.

Der gute Johann Joachim Winckelmann hatte noch keine sechzig Jahre vor Kleist folgenschwer folgendes Missverständnis über die alten Grirechen in die deutsche Welt gesetzt: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele“, ausgerechnet bezogen auf die ebenfalls atemberaubende Laokoon-Gruppe, die nichts anderes als einen Protagonisten wie Betrachter quälenden Todeskampf zeigt. Da sah Herr Winckelmann, was er sehen wollte, und er hatte wohl auch nur die griechischen Klassiker gelesen, die er lesen wollte. „Die Bakchen“ von Euripides, in der eine Mutter im Wahn ihren Sohn zerreißt, muss da im örtlichen Buchhandel wohl gerade nicht vorrätig gewesen sein. Aber man muss auch schon sehr, haha, blind sein, um das Grausige, Gewalttätige der Schlussszenen von Sophokles’ „König Ödipus“ zu übersehen.

Die Frühromantiker, allen voran Friedrich Schlegel, setzten sich von dieser, sagen wir’s doch einfach mal wie es ist, falschen Lesart ab, und schon das gefiel Goethe nicht, der sich wohl längst selbst edel, einfältig, still und groß sah. Penthesilea ist endlich das Stück, das gewaltig und gewalttätig den deutschen Versuch, die griechische Klassik zu adaptieren, erst rund macht. Schade, dass das der große Klassiker in Weimar nicht sehen wollte.

Über Penthesilea schreibt Kleist in seinem Brief an Goethe vom 24. Januar 1808:

Es ist übrigens eben so wenig für die Bühne geschrieben, als jenes frühere Drama: der Zerbrochne Krug, und ich kann es nur Ew. Excellenz gutem Willen zuschreiben, mich aufzumuntern, wenn dies letztere gleichwohl in Weimar gegeben wird. Unsre übrigen Bühnen sind weder vor noch hinter dem Vorhang so beschaffen, daß ich auf diese Auszeichnung rechnen dürfte, und so sehr ich auch sonst in jedem Sinne gern dem Augenblick angehörte, so muß ich doch in diesem Fall auf die Zukunft hinaussehen, weil die Rücksichten gar zu niederschlagend wären.

Es ist so unglaublich schade, dass es Kleist nicht gelang, sich frei zu machen von Goethe und vielen andern, auf deren Zuspruch er zeit seines Lebens hoffte und die ihm einfach nicht gut taten. Dass Kleists ungeheuerliche Bilder von Gewalt und Leidenschaft vielleicht tatsächlich eher in ein Theater der Zukunft gehörten, dass sie erst heute zu ertragen sind – und uns womöglich helfen, grausige reale Ereignisse wie einen 11. September oder die Taten eines Marc Dutroux zu bewältigen, das steht auf einem anderen Blatt.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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