Unter Gespenstern

Dann doch durchaus romantikaffin hat Kleist (neben weiteren gelegentlichen Ausflügen ins Wunderbare und Magische) zwei Gespenstergeschichten geschrieben, die mehrfach in einschlägige Anthologien aufgenommen wurden und so schon vor rund dreißig Jahren mich als Leser fanden. Jetzt freute ich mich, ihnen im Rahmen meiner systematischen Kleistlektüre wieder begegnen zu dürfen. Sie sind heute noch gut, ungewöhnlich ungruselig und schon deshalb besonders reizvoll.

Das Bettelweib von Locarno und die Erzählung mit dem besonders nüchternen Titel Geistererscheinung erschienen beide in den Berliner Abendblättern, letztere war eine der letzten Veröffentlichungen von Kleist in diesem Blatt. In beiden Erzählungen wählt Kleist seinen schon sattsam bekannten extrem nüchternen Stil, der fast journalistisch wirkt, distanziert, sachlich – als läge ihm nichts ferner, als Spannung zu erzeugen, was üblicherweise ja wohl das Ziel einer Gespenstergeschichte ist.

Geistererscheinung entfaltet dabei sogar eine gewisse Komik. Die Geschichte, die über weite Strecken im hellen Tageslicht spielt, schildert die Geschichte des erzdummen Bauernjungens Joseph, dem wegen eines Geistes ziemlich übel mitgespielt wird – allerdings weniger vom Geist selbst, als vielmehr von seiner Verwandtschaft, die den Jungen wegen des Geistes regelmäßig und schließlich fast gewohnheitsmäßig verprügelt:

Joseph schreit fürchterlich, alle seine Geschwister werden wach und schreien mit, die Eltern eilen voll Angst herbei, sie besorgen Feuer oder Mord, beruhigen sich aber bald, da sie sehen, daß nur der dumme Joseph etwas geprügelt wird.

Warum erscheint immer wieder der nächtliche Geist? Er verfolgt, und da weicht die Erzählung von allen Gespenstergeschichtenkonventionen ab, ganz eigene Interessen. Er bringt Joseph dazu, an einer bestimmten Stelle auf dem Acker zu graben, dort würde er eine Menge Gebeine finden und darunter eine Schatztruhe. Die Gebeine findet Joseph tatsächlich, nur nach der Schatztruhe sucht das ganze Dorf vergebens – nennen wir’s einfach mal beim Namen: Der Geist, der sichergehen wollte, dass seine Knochen endlich ordnungsgemäß begraben werden, hat Joseph schlicht angelogen, ach was: verarscht. Das Ganze bringt Kleist auf wenigen Seiten lakonisch und ohne die Pointe großartig zu betonen, und allein dadurch ist die Geschichte schon sehr hübsch und unterhaltsam zu lesen – eine kleine Perle in der ansonsten nicht zu übersehenden Ödnis der letzten Abendblätter-Monate.

Die Erzählung Das Bettelweib von Locarno hat, nicht zuletzt, weil sie Eingang fand in den zweiten Band der noch zu Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen, eine weitaus größere Berühmtheit erlangt, dabei ist sie der Geschichte von der Geistererscheinung gar nicht unähnlich, was Stil und Lakonie betrifft. Ihr fehlt allerdings der Humor und, wichtiger noch, die erzählerische Logik letzterer. Eine fast allen Gespenstergeschichten zugrunde liegende Bedingung für ihr Funktionieren ist ja, dass, auch wenn und gerade weil es übersinnlich und jenseits der Naturgesetze zugeht, die Geschichte einer selbstgestrickten inneren Logik  folgt: Jemand erscheint (wie in „Hamlet“) nach seinem Tode wieder, weil er ermordet worden und der Mörder noch nicht seiner gerechten Strafe zugeführt worden ist; ein Haus wird (wie in „Poltergeist“) von Gespenstern heimgesucht, weil es verbotenerweise auf einem Friedhof errichtet worden ist etc. Dem Bettelweib von Locarno ist aber nicht wirklich übel mitgespielt worden, außer dass der Hausherr des Gebäudes, in dem es sich etwas ausruhen wollte, es unwillig aufgefordert hat, sich bitte in der anderen Zimmerecke niederzulassen. Wirklich nachvollziehbare Begründungen für den Spuk gibt es hier keine. Wenn so etwas reichte, Toten die ewige Ruhe zu nehmen, täte wohl die gesamte Menschheit nachts kein Auge mehr zu.

Hier reicht es, und es führt dazu, dem Hausherrn die Ruhe im Leben zu nehmen, mit all den Katastrophen, ohne die es bei Kleist offensichtlich nicht geht. Am Ende ist eine Familie zerstört und ein Schloss liegt in Schutt und Asche. Die atemlose Stringenz, das Unausweichliche, wie es Das Erdbeben in Chili kennzeichnet, fehlen hier, es wirkt etwas bemüht. Reizvoll ist Das Bettelweib von Locarno gleichwohl: Wieder eine Erzählung im hochsachlichen Ton und inhaltlich neben der Spur, durchaus faszinierend und etwas verstörend.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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