Zwischen allen Stühlen

„Komm gut ins neue Jahr!“ – „Guten Rutsch!“ – „Alles Gute für 2011!“

Drei der Sätze, die gestern und in den vergangenen Tagen vermutlich ganz oben in der Hitliste der meist verwendeten Sätze der Deutschen standen. Heinrich von Kleists gute Wünsche an seine Schwester Ulrike dürften dagegen in der Rangfolge der beliebtesten Neujahrswünsche eher an hinterer Stelle zu finden sein. Sonderlich charmant mutet jedenfalls sein Vergleich der Schwester mit einem „Amphibion“ nicht an.

Er hat später in einem Brief (an Adolphine von Werdeck, 28. Juli 1801) den eigenartigen Wunsch, die Schwester möge sich doch einmal entscheiden, welchem Geschlecht sie angehören möchte, konkretisiert. Offenbar hatte er ein Problem damit, dass Ulrike nicht so recht in das weibliche Rollenbild, wie es ihm und vielen Zeitgenossen vorschwebte, passte. Berühmt ist die Anekdote, dass sie öfters in Männerkleidern reiste, um in den Genuss von Rechten zu kommen, die sonst nur Männern vorbehalten waren, darunter ein Studium.

Unwillkürlich drängt sich mir die Frage auf, ob Kleist nicht sein eigenes Dasein zwischen allen Stühlen auf seine Schwester projiziert. Den Eindruck, dass er sich nie in seiner Haut wohl, in seiner eigenen Persönlichkeit zu Hause gefühlt hat, werde nicht nur ich bei ihm nicht los, und es gibt ja Anzeichen dafür, dass sich das auch auf seine Sexualität beziehen könnte.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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