Wie aus der Tragödie eine Komödie wird

Der zerbrochne Krug ist – schrieb ich das schon? Man kann’s nicht oft genug schreiben – ein durch und durch geniales Stück, und über dem Ärger, den ich über Goethes aufgeblasenes Altherrengeschwätz empfunden habe, möchte ich doch nicht versäumen, zwei, drei Sätze zur genialen Grundkonstruktion zu verlieren, kommt das Stück doch nicht nur ausgesprochen modern daher (in Bezug auf die Figurenkonstellation voller gegenseitigem Misstrauen in einer ausgesprochen unsicheren Welt), sondern auch mindestens genauso klassisch – purster Aristoteles! möchte man ausrufen. 

Nun ist ja Aristoteles’ Komödientheorie dummerweise 1327 in einer norditalienischen Abtei verbrannt, aber aus dem erhaltenen Teil seiner „Poetik“ über die Tragödie wissen wir genug, um frei heraus behaupten zu können, dass der griechische Altmeister mit der Konstruktion von Kleists Stück sehr zufrieden gewesen wäre. Das komplette Geschehen spielt sich an einem Ort in Echtzeit vor den Zuschauern ab und widmet sich fast ausschließlich und sehr genüsslich der Vernichtung einer lächerlichen Existenz – die perfekte Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Aristoteles hatte die drei Einheiten ja noch deshalb gefordert, weil er davon ausging, dass mehr den Zuschauern nicht zuzumuten sei; heute, 2300 Jahre später, traut man uns im Kino und im Fernsehen schon mehr zu, und auch um 1800 waren viele Dramatiker schon deutlich mutiger. Dass Kleist ausuferndere Dramenkonstruktionen beherrschte, wissen wir aus anderen Stücken von ihm; beim Zerbrochnen Krug nutzte er die stringente Konstruktion, um aus ihr heraus die ungeheure Komik dieses Stücks zu entwickeln. Gerade das Unerbittliche, das Ausweglose für Adam ist der Clou.

Die Grundidee der Geschichte ist mindestens so genial wie die äußere Konstruktion des Stücks, und natürlich, wie es sich für gute Stücke gehört, korrespondiert beides aufs Schönste. Zu Grunde liegt die (gerade auch für Aristoteles) ultimative klassische Tragödie, Sophokles’ „König Ödipus“. Zur Erinnerung: Ödipus hält Gericht über ein Verbrechen und tut alles für seine Aufklärung. Am Ende muss er erkennen, dass er der Täter ist und dass er (Voraussetzung für die Tragik und die Tränen beim Zuschauer) unschuldig, weil unwissentlich schuldig geworden ist. Wir Zuschauer, die wir genauso wenig wie Ödipus wissen, identifizieren uns mit ihm und fiebern mit ihm mit beim großen Whodunit. Das Ende ist für alle Beteiligten, auch für uns Zuschauer, entsetzlich (Bei der Premiere derartiger Stücke im alten Griechenland soll es ja vor lauter Heulen und Zähneklappern schon mal zu spontanen Fehlgeburten gekommen sein, das gibt es heute im Theater seltener. Gut inszeniert würde der Stoff aber sicher auch heute noch im Kino auf großer Leinwand seine Wirkung erzielen, Anlässe zum Heulen gibts da genug).

Was macht nun Kleist? Er ändert nur ein kleines Detail am oben skizzierten Plot: Adam weiß – anders als Ödipus – von Anfang an, dass er der Täter ist, und wir wissen es wenige Minuten später auch. Der Rest ergibt sich wie von selbst: Statt Aufklärung brutalstmögliche Vertuschung. Statt der großen Tragödie die ultimative Komödie.

Großartig, oder?

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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