Kleist schreibt über das Glück

Es ist unklar, aus welchem Anlass und wann genau Kleist seinen Aufsatz, den sichern Weg des Glückes zu finden und ungestöhrt – auch unter den größten Drangsahlen des Lebens, ihn zu genießen! schrieb. Veröffentlicht wurde er zu Lebzeiten nicht.

In den Anmerkungen schreiben Reuß und Staengle:

Der Wortlaut des Aufsatzes stimmt in seinem Eingang passagenweise mit dem Brief überein, den Kleist am 18. / 19. März 1799 an Christian Ernst Martini übersandte. Ob der Aufsatz bereits vorlag, als der Brief geschrieben wurde, oder, ob, umgekehrt, eine Überarbeitung des Briefes darstellt, läßt sich auf der Basis der erhaltenen Dokumente nicht klären.

Auf jeden Fall gilt: Ob ich mich, akut in einer Lebenskrise steckend und angegriffen von meinen Verwandten wegen meiner Entscheidung, den Militärdienst zu quittieren, mit Ausführungen über das Glück und das Leben an sich an meinen alten Hauslehrer wende (vgl. den Artikel „Lebensentwürfe“) – oder ob ich meinem besten, drei Jahre jüngeren Freund einen Aufsatz widme zum Thema Glück: Das ist etwas völlig anderes. Der Aufsatz ist, im Gegensatz zum Brief an Martini, abgehoben von Kleists eigener Krisensituation, und seine Ausführungen, nun in einem ganz anderen Zusamenhang, gewinnen an Ruhe und Klarheit.

Glück hat, so Kleist, nichts mit äußerem Wohlstand zu tun, glücklich können nur Menschen sein, die tugendhaft leben. Tugenden sind z. B. Edelmuth, Menschenliebe, Standhaftigkeit, Bescheidenheit, Genügsamkeit &c., und der Hinweis von Reuß und Staengle dazu in den Anmerkungen ist sehr hübsch, weisen sie doch darauf hin, dass „Menschenliebe / Standhaftigkeit / Bescheidenheit / drey himmlische Geschwister“ auf einem Denkmal in Kleists Heimatstadt Frankfurt / Oder stand. Seine Vorstellung von Tugenden kam also aus zweiter Hand, und so liest sich in diesem Aufsatz vieles: angelesen, ein bisschen selbstverliebt in das eigene Schreiben, etwas altklug. Der Mann hat ein Mitteilungsbedürfnis, und das relativ lang, bevor er sich entschlossen hat, Schriftsteller zu werden.

Eigenartig seine These vom Glücksvorrath:

Auch scheints, als ob die Summe der glücklichen und unglücklichen Zufälle im Ganzen für jeden Menschen gleich bleibe. (…) Oft verpraßt (…) ein Jüngling in ein paar Jugendjahren den Glücksvorrath seines ganzen Lebens, und darbt dann im Alter; und da Ihre Jugendjahre, mehr noch als die meinigen, so freudenleer verfloßen sind, ob Sie gleich eine tiefgefühlte Sehnsucht nach Freude in sich tragen, so nähren und stärken Sie die Hoffnung auf schönere Zeiten, denn ich getraue mich, mit einiger, ja mit großer Gewißheit Ihnen eine frohe und freudenreiche Zukunft vorher zu kündigen.

Unwillkürlich sehe ich mein Leben als Excel-Tabelle vor meinem geistigen Auge und schaue mir meine bisherige persönliche Glücksbilanz an – ein schwieriges Konzept, auch und gerade im Rückblick auf Kleist selbst angewendet.

Aber es gibt auch sehr anrührende Momente in diesem langen Text. An einigen Stellen schreibt Kleist mit einem großen, emphatisch vorgetragenen Lebensoptimismus, und ich habe den Eindruck, er hat wirklich geglaubt an das, was er da schreibt:

(…) Sehen Sie sich an, den an Kenntnißen bereicherten, an Herz und Geist durch Erfahrung und Thätigkeit gebildeten Mann. Denn Bildung muß der Zweck unserer Reise sein und wir müßen ihn erreichen, oder der Entwurf ist so unsinnig wie die Ausführung ungeschickt.
Dann, mein Freund, wird die Erde unser Vaterland, und alle Menschen unsre Landsleute sein. Wir werden uns stellen und wenden wohin wir wollen, und immer glücklich sein. Ja wir werden unser Glück zum Theil in der Gründung des Glücks Anderer finden, und andere bilden, wie wir bisher selbst gebildet worden sind.

Ich bin ziemlich sicher, Kleist hat zuerst den Brief an seinen Lehrer Martini geschrieben – zweckgebunden, aus der Krise heraus, sein Verhalten vor seiner Umwelt und natürlich auch sich selbst rechtfertigend. Die in seinen Augen schönsten Passagen hat er dann als Grundlage für seinen ersten großen theoretischen Aufsatz verwendet und damit ins Universelle überführt, durchaus klarer in der Gedankenführung und universeller in der Gesamtaussage. Aber, halten wir das auch noch einmal fest, mit Lebenserfahrung und wirklich klugen eigenen Gedanken nicht wirklich unterfüttert, relativ schnell hingehauen und grammatikalisch und sprachlich nicht nur in der oben zitierten Passage nicht ganz auf der Höhe. Aber wir ahnen: Von dem Herrn werden noch einige Texte zu erwarten sein.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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