Funkstille

Kleist fährt nach Paris, verbrennt dort nach eigener Aussage alles, was er bisher in Sachen Robert Guiskard zu Papier gebracht hat und teilt in einem sehr kurzen Brief vom 26. Oktober 1803 an Ulrike von Kleist mit, dass er gedenkt, sich in eine napoleonisch-englische Schlacht zu stürzen und darin umzukommen. Der Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen hin. Dann ist Funkstille, es ist die letzte überlieferte Aufzeichnung Kleists für über ein halbes Jahr.

Es ist nun Ende April 2011, seit vier Monaten lese ich, mich eng an meinen (bisher gut zu schaffenden) Leseplan haltend (fast) täglich Kleist, und die Entscheidung, mich im wesentlichen an der Reihenfolge der Entstehung der Texte zu orientieren, war, glaube ich, eine richtige. Das, was Günter Blamberger im Vorwort seiner Biografie versprach (und zumindest im ersten Drittel nicht wirklich einhält), nämlich das Leben Kleists einmal nicht von der Katastrophe seines Endes her zu denken, sondern ihn bei seinem Leben zu begleiten und so Kleist einmal nicht als den grandios und spektakulär Scheiternden zu sehen, als der er gerade im Kleistjahr von einem Großteil der Presse bislang beschrieben wird, gelingt mir einfach durch die Lektüre immer wieder ganz gut und rückt ihn mir näher.

Durch den übergroßen Anteil der Briefe an Kleists Texten bis 1803 lag der Schwerpunkt meiner Beschäftigung mit ihm in den letzten Monaten naturgemäß bei seinem Leben; der Fokus wird sich in der zweiten Jahreshälfte zugunsten der großen Werke verschieben. So ist Kleist mir inzwischen ein ziemlich enger Begleiter geworden; und die Funkstille von Herbst 1803, sein Zurückziehen in die Wohnung des Mainzer Arztes Georg Christian Gottlob Wedekind, um dort über fünf Monate durch wohl eine schwere Depression zu gehen, nehmen mich tatsächlich ein wenig mit.

Nein, ein Freund ist Kleist mir nicht geworden bisher, dafür ist er, mit Verlaub, wirklich zu anstrengend … aber ich fühle mit ihm, er ist mir, auch als Mensch, wichtig geworden. Und ich bin froh, dass er mit seiner Schwester Ulrike, mit seinem Freund Ernst von Pfuel, auch und gerade mit diesem Arzt Wedekind Leute in seiner Umgebung hat, die ein wenig auf ihn aufpassen.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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