Krisen im Deutschunterricht

Die Datenkrake Google Analytics lehne ich ja ab, und sie ist auch nicht hier installiert. Ein einfaches Statistikmodul, „Site Stats“, gibt mir aber über die Anzahl der Seitenaufrufe und Suchbegriffe Auskunft, über die dieser Blog gegoogelt wurde, und darauf werfe ich ab und zu dann doch einen Blick. Völlig unangefochten an der Spitze stehen Suchen rund um die berühmte „Kant-Krise“. Warum, um Himmels Willen?

Zugegeben, mein Blogeintrag zu diesem Thema hatte ausnahmsweise einen sehr suchmaschinentauglichen Titel, und er findet sich bei Google-Suchen nach „Kant Krise“, „kantkrise kleist“ oder gerne auch „kant kriese“ gleich auf der ersten Seite. Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich habe Grund zur Befürchtung, dass die Geschichte mit den ach so folgenreichen grünen Gläsern immer noch zu den ganz, ganz großen Nummern im Deutschunterricht gehört, so ähnlich, wie Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ oder Brechts „Mutter Courage“ als hartnäckige angebliche Musterbeispiele für zeitgenössische Literatur nicht verschwinden wollen (Ob jetzt arme Schülerseelen auf der verzweifelten Suche nach Links zu diesen gut abgehangenen Suhrkamp-Bestsellern von Google auf diesen Text hier gelenkt werden?).

Deutschlehrer und Aufgabenbastler deutscher Zentralabituraufgaben haben die „Kantkrise“ als die ganz große Nummer in Kleists Leben kennengelernt, und weil es Arbeit machen würde, von liebgewordenen traditionellen Interpretationen Abstand zu nehmen, halten sie Schülergeneration für Schülergeneration daran fest – obwohl die Theorie auf einem einzigen Brief fußt, in einer Zeit, in der Kleist ständig wilde Ausreden einfielen, um endlich sein Leben wieder umschmeißen zu können, in einem Lebensalter zudem, das den Schülern, die da mutmaßlich versuchen, sich Wissen durch Googlen anzueignen, nicht allzu fern sein sollte, von Kleists aduleszenten Seelennöten ganz zu schweigen.

Was man in Abiturvorbereitungsforen dann lesen muss, zeigt stattdessen mal wieder, wie entsetzlich fremd Kleists Probleme den dort Hilfe suchenden Schülern sind. So schreibt der/die arme Addi183 auf abiunity.de: „Er war halt in seiner Jugend ziemlich beeindruckt vom Geist der Aufklärung (Kant und Rousseau) und hat sich auch dementsprechend damit auseinandergesetzt, aber letztendlich hilft ihm dieses ‚Studium’ nicht bei der Suche nach innerer Sicherheit und Orientierung nicht genügen kann. Er ist halt verzweifel über die Einsicht, dass die Wissenschaft keinen Zugang zur objektiven Erkenntnis und absoluten Wahrheit hat. So haben wir das im Unterricht notiert. Ich hoffe ich kann dir damit helfen! P.S. Er hat ja Selbstmord begangen. War die logische Konsequenz für ihn aus seinem bisherigen Leben. Er hatte auch wegen dieser Kant-Krise eine pessimistischen Blick in die Zukunft.“

Dass sich dieses arme Wesen in seinen eigenen Notizen so verheddert, kann man ihm nicht verdenken. Wie soll ich mich als 18-Jährige/r einem 24-Jährigen nähern, von dem der Deutschlehrer auf dem Forschungsstand von gefühlt 1950 behauptet, er habe eine „Kant-Krise“? Was würden wir denn mit so einem Typen auf dem Schulhof machen? Na, Hein, immer noch Kant-Krise heute? Oder is schon besser?

Liebe Schülerinnen und Schüler, Hefte raus, hier ein paar Regeln zum Mitschreiben:

  • Lasst Euch nix erzählen, lest selbst. Und zwar erstens Primärtexte, in diesem Fall Kleists Briefe, und zweitens Sekundärtexte. In dieser Reihenfolge. Ist ja auch ganz leicht zu merken.
  • Und wenn Ihr Sekundärtexte lest, nehmt aktuelle. Reclams grüne und blaue Bände, Abikompaktwissen und wie der ganze Kram heißt, können beim Buchhändler weiter vor sich hinstauben. Schiebt den Schulbuchverlagen nicht das Geld in den Rachen oder sonstwohin, investiert es lieber in gute Kleistausgaben oder Carl Barks Comics. Und bei Muttis Rat „Hier, Kind, nimm Königs Erläuterungen, die waren 1970 schon prima“ hört Ihr am besten gar nicht erst hin.
  • Und immer schön kritische Fragen stellen! Nicht alles glauben, was der Herr Lehrer und die Frau Direktorin erzählt, sondern schön am Primärtext bleiben! Widersprüche aufspüren, Zweifel äußern!

Neeeiiiin, nicht sofort aufspringen, der Lehrer beendet die Stunde. Hausaufgabe bis zum nächsten Mal: Weisen Sie anhand von Kleists Briefen nach, dass er seine Verlobte Wilhelmine nach Strich und Faden verarscht mit sich vorgeblich auf den Promiphilosophen Kant berufendem Philosophiegeschwafel, um sich mal wieder, wie schon so oft, pubertär aus der Affäre ziehen und schnell neu erfinden zu können. Danke schön.

In memoriam Günter Best.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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