Die Marquise und die Männer

Sprechen wir über Die Marquise von O….

Eine wunderbare Geschichte: Eine Frau stellt fest, dass sie schwanger ist, ohne sich daran erinnern zu können, wie es dazu kam – ihre Eltern glauben ihr nicht und verstoßen sie, doch die Frau nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand, findet den Vater ihres Kindes, verliebt sich in ihn und heiratet; mit den Eltern kommt es zu einer tränenreichen Versöhnung.

Eine grausige Geschichte: Eine Frau entkommt knapp einer Massenvergewaltigung, schläft vor Erschöpfung ein und wird ausgerechnet von ihrem Retter im Schlaf vergewaltigt, dabei wird sie schwanger. Die Eltern lassen ihre Tochter mit den traumatischen Erlebnissen völlig allein und verstoßen sie. Der schwangeren Tochter gelingt es, mit ihrem Kind, das sie aus früherer Ehe hat, sich als alleinerziehende Mutter eine neue, selbstständige Existenz aufzubauen. Parallel macht sie sich auf die Suche nach dem Vater des ungeborenen Kindes. Ihre Mutter baut neuen Kontakt zu ihr auf, und sie kann sich mittels einer List, die sie gegenüber ihren eigenen Tochter anwendet, und daraufhin ihren Mann davon überzeugen, dass die Tochter für ihre außereheliche Schwangerschaft tatsächlich nichts kann. Der Vater, der gerade noch mit seiner Tochter nie wieder etwas zu tun haben wollte, fällt mit körperlichen Zärtlichkeiten, die deutlich ins Inzestuöse lappen, über sie her. Als die Tochter endlich vor dem Mann steht, der sie im Schlaf vergewaltigt hat, bezeichnet sie ihn zunächst als Teufel – und heiratet ihn dann doch, vorgeblich glücklich.

Zwei Lesarten einer Erzählung, und das Unangenehme ist, dass aus Kleists Text nicht eindeutig zu entnehmen ist, welche Sichtweise die seine ist. Er behauptet im Untertitel des Erstdrucks in seiner Zeitschrift Phöbus, die Geschichte sei entstanden nach einer wahren Begebenheit, deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt worden. Von einer derartigen Begebenheit ist nichts bekannt, aber es kann gut sein, dass Kleist den Ausgangspunkt seiner Erzählung (Frau wird von fremdem Mann unwissentlich schwanger) irgendwo gelesen hatte und davon so fasziniert war, dass er ihn zur Grundlage nutzte, nicht ahnend, in welche Abgründe er beim Schreiben vordringen würde. Denn er bemüht sich um einen extrem sachlichen, fast nachrichtenartigen Ton, noch stärker als in Michael Kohlhaas; vordergründig nimmt er die Perspektive seiner Hauptfigur ein, schreibt aber über sie in einem so kühlen Ton, dass es fast unmöglich ist, eventuelle Wertungen des Erzählers aus dieser Geschichte herauszulesen.

Die Ungeheuerlichkeit der Ausgangssituation, oben kurz skizziert, ist das eine; an wenigen Stellen, aber immerhin, finden sich deutliche Verurteilungen der Vergewaltigung des Anfangs. Der tiefste Abgrund tut sich mir beim Lesen der Versöhnungsszene mit dem Vater auf. Die Mutter hat ihren Mann von der „Unschuld“ seiner Tochter überzeugt, der ist daraufhin in Tränen aufgelöst und, seelisch völlig erschüttert, erst nach mehreren Aufforderungen in der Lage, seine Tochter zu umarmen; daraufhin entfernt sich die Mutter und lässt die beiden allein:

Sobald sie draußen war, wischte sie sich selbst die Thränen ab, dachte, ob ihm die heftige Erschütterung, in welche sie ihn versetzt hatte, nicht doch gefährlich seyn könnte, und ob es wohl rathsam sey, einen Arzt rufen zu lassen? Sie kochte ihm für den Abend Alles, was sie nur Stärkendes und Beruhigendes aufzutreiben wußte, in der Küche zusammen, bereitete und wärmte ihm das Bett, um ihn sogleich hineinzulegen, sobald er nur, an der Hand der Tochter, erscheinen würde, und schlich, da er immer noch nicht kam, und schon die Abendtafel gedeckt war, dem Zimmer der Marquise zu, um doch zu hören, was sich zutrage? Sie vernahm, da sie mit sanft an die Thür gelegtem Ohr horchte, ein leises, eben verhallendes Gelispel, das, wie es ihr schien, von der Marquise kam; und, wie sie durchs Schlüsselloch bemerkte, saß sie auch auf des Commendanten Schooß, was er sonst in seinem Leben nicht zugegeben hatte. Drauf endlich öffnete sie die Thür, und sah nun – und das Herz quoll ihr vor Freuden empor: die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Thränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küßte sie. Die Mutter fühlte sich, wie eine Seelige; ungesehen, wie sie hinter seinem Stuhle stand, säumte sie, die Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause wieder geworden war, zu stören. Sie nahte sich dem Vater endlich, und sah ihn, da er eben wieder mit Fingern und Lippen in unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war, sich um den Stuhl herumbeugend, von der Seite an. Der Commendant schlug, bei ihrem Anblick, das Gesicht schon wieder ganz kraus nieder, und wollte etwas sagen; doch sie rief: o was für ein Gesicht ist das! küßte es jetzt auch ihrerseits in Ordnung, und machte der Rührung durch Scherzen ein Ende.

Da bekommt die Rückkehr der Marquise in den Schooß der Gesellschaft eine ganz neue Bedeutung.

Wusste Kleist, was er da beschreibt? Die Szene ist, auch und gerade im Kontext der gesamten Erzählung, ungewöhnlich, ja, unangenehm detailliert ausgeführt und beklemmend, nicht nur, was die körperlichen Zudringlichkeiten des Vaters betrifft, sondern auch die Reaktionen der Mutter, bis hin zum Beobachten der Szene durchs Schlüsselloch. Aber man wird das Gefühl nicht los, dass Kleist diese Szene selbst als positiv gemeint hat, als ersten Teil seines vorgeblichen Happy Ends.

Was bleibt? Einer Frau wird durch Männer (brutale Soldaten, einen Vergewaltiger, den eigenen Vater) mehr als übel und gewalttätig mitgespielt. Es gelingt ihr, sich daraus zu befreien, von zu Hause auszuziehen und sich eine eigene, unabhängige Existenz aufzubauen. Und dann hält sie doch die eigene Freiheit (in einer Zeit lebend, in der alleinerziehende Frauen kaum eine gesellschaftliche Chance hatten) nicht aus und ergibt sich: ihrem Vater und ihrem Vergewaltiger.

Und es steht zu befürchten, dass Kleist dieses Ende gutheißt.

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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