Es geht aufs Ende zu

Außerkleistblogmäßige Belastungen wie diese, ein kurzer Urlaub, eine nervtötende Erkältung und dergleichen mehr haben dazu beigetragen, dass ich seit über einem Monat hier keinen neuen Eintrag vorgenommen habe. Aber es kommt noch etwas dazu: Die bald einjährige Begleitung Kleists auf seinem turbulenten Lebensweg kommt bald an ihr Ende. Und ich scheue vor diesem Ende zurück – weniger vor dem Ende meines Kleistjahrs, als vielmehr vor Kleists Ende, dem Suizid.

Ein Schwerpunkt meines Lesenovembers waren die Berliner Abendblätter, Kleists letztes großes Projekt vor seinem Tod. Die ersten Monate seiner Tageszeitung verliefen spannend und lebendig und strahlten Kreativität und eine gewisse Gelöstheit aus, das Blatt lief vergleichsweise erfolgreich. Aber schon im Dezember 1810 häufen sich die Probleme, Kleist muss den Verleger wechseln und hat Ärger mit dem alten, und der völlig missglückte und auf ein sehr schwaches Nervensystem und große Verzweiflung hindeutende Versuch, die Berliner Abendblätter mit staatlich-preußischer Hilfe quasi zu einem Amtsblatt zu machen, die wüste Beschimpfung der Verantwortlichen bei der preußischen Regierung bis hin zur Duellforderung nach dem ablehnenden Bescheid; der offensichtliche auch inhaltliche Niedergang der Zeitung im Frühjahr 1811 mit nur noch wenigen originären und originellen Veröffentlichungen von Kleist – all das ist bedrückend und traurig.

Kleists Nerven liegen blank, die finanziellen Verhältnisse sind katastrophal, und als auch Kleists über Jahre so endlos geduldige Schwester Ulrike einen weiteren finanziellen Rettungsschirm nur noch unter der Bedingung zusichern möchte, dass sie die Hoheit über die Verwendung der Gelder behält und die Geschwister sich daraufhin ernsthaft zerstreiten, muss sich in Kleists Kopf alles zu einem nicht mehr entwirrbaren Netz zusammengezogen haben.

Mit 200 Jahren Abstand einem Menschen zuzuschauen, wie er einem Suizid entgegenlebt, ist schwierig. Diese Entwicklung nur beobachten zu können, ohne die Möglichkeit eines helfenden Eingriffs, tut weh, das Gefühl von Hilflosigkeit gegenüber einem Menschen, der mir tatsächlich auch persönlich nahe gekommen ist in den vergangenen Monaten, ist schwer zu ertragen.

Tatsächlich ist das nicht weit entfernt von dem Gefühl, das viele Angehörige und Freunde von Menschen haben, die sich umgebracht haben. Nach dem Suizid schaue ich ganz anders auf die letzten Monate, ja, auf das gesamte Leben dieses Menschen zurück, frage mich, ob ich alles richtig gemacht habe, ob ich ihm hätte helfen oder bessere Hilfen hätte vermitteln können. Ich versuche, den Suizid zu verstehen, um selbst damit fertig zu werden. Ich suche nach Krankheitsbildern, die zum Suizid führten, nach Umwelteinflüssen, ich lese die alten Briefe und E-Mails neu und suche in und zwischen den Zeilen nach Hinweisen, die ich womöglich früher hätte entschlüsseln müssen. Womöglich, wie es sehr viele im Fall von Kleist getan haben, heroisiere ich die Katastrophe zum „Freitod“.

Es ist völlig egal, ob Kleist und Henriette Vogel wenige Stunden vor dem Ende ausgelassen rund ums Stolper Loch getanzt sind, eine Heroisierung ist völlig fehl am Platze. Der Suizid ist der letzte Ausdruck völliger Verzweiflung und tief empfundener Aussichtslosigkeit. Wenn ich mein Leben nach langer, letzter Krise innerlich hinter mir gelassen habe, kann ich vor dem letzten Schritt ganz ruhig und entspannt sein. Dann kann ich auch tanzen und singen, bevor ich mir den Lauf der Pistole in den Mund stecke.

So spiele ich nun in diesen letzten Wochen meines Kleistjahrs den Verlust eines nahestehenden Menschen durch, dem nach eigener Aussage auf Erden nicht zu helfen war, dessen Suizid ich nicht verhindern konnte. Die alte Regel, dass, wer sich umbringen will, das auch schaffen wird, dass jeder selbst für sein Leben verantwortlich ist, bis hin zum Recht, es selbst zu beenden, diese Regel kann sich der Angehörige immer und immer wieder sagen, er kann sie auch rational verstehen – es bleibt der bittere Verlust und das Gefühl der Hilflosigkeit.

Ist es ein Wunder, dass ich vor den letzten Texten Kleists zögere?

Über martinfueg

Martin Füg studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Bonn und Erlangen. In Erlangen gründete und leitete er gemeinsam mit Kerstin Bürger und Patrick Fuchs das Freie Theater DWARD. 1999 löste sich DWARD auf. Seit 2000 lebt und arbeitet Martin Füg in Köln. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Bach-Vereins Köln.
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